Schluss mit schüchtern!

Werwölfchen als positive Andere bei Gunnel Linde, Paul DeWeese, Cornelia Funke und Paul van Loon

Autor/innen

DOI:

https://doi.org/10.54717/kidsmedia.5.1.2015.1

Schlagworte:

Werwolfgeschichten, Monstrosität, Andersartigkeit

Abstract

Im deutschsprachigen Kinderbuch-Angebot für acht- bis zwölfjährige Leserinnen und Leser sind Werwölfe nicht oft anzutreffen. Dies gilt besonders für Werwölfe in Hauptrollen abseits der einschlägigen Grusel-/Monsterreihen. Von einem Protagonisten, der sich plötzlich in einen Werwolf verwandelt, erzählen Gunnel Lindes Jag är en varulvsunge (1972), Gene DeWeeses The Adventures of a Two-Minute Werewolf (1983), Cornelia Funkes Kleiner Werwolf (1996) und Paul van Loons Dolfje Weerwolfje-Trilogie (1996–2001). In der ‚kindertauglichen‘ Version unterliegt die eng mit Horror- und Gruselgeschichten verbundene Figur des Werwolfs erwartungsgemäss der Verharmlosung; die im Film oft schmerzhafte Verwandlung wird auf Kribbeln reduziert. Vorstellungen blutrünstiger Werwölfe fungieren aber als wichtige Kontrastfolie: Indem sich die Untaten der Werwölfchen als ‚halb so wild‘ erweisen, werden sie positiviert und entdämonisiert. Vor allem durch die altersgerechten Illustrationen (z. B. Werwolf mit Mütze oder Brille) verliert die Hybridität der Werwolfsgestalt die Konnotation der Monstrosität weitgehend und unterliegt – in der Tradition anthropomorpher Sympathieträger – der Verniedlichung. Zwar empfinden die Protagonisten ihre neue Seinsform, der Kontrollverlust und Zerstörungspotenzial innewohnen, als monströs, zugleich eröffnet ihnen das Werwolfsein neue Freiheiten abseits erwachsener Autoritätsräume. Die Werwolfjungen changieren zwischen Freude über die Möglichkeiten und Frust über die Zwänge des Werwolflebens. Als Katalysator des neu entdeckten Muts und damit neuer Handlungsmöglichkeiten für die ausnahmslos schüchternen Jungen wirken oft Wutanfälle – als Form des Kontrollverlusts. Insofern diese gegen Ungerechtigkeiten gerichtet sind, erhalten sie eine soziale Funktion, wenn die Jungen für sich und ihre Freunde einstehen und ihre Ängste überwinden. Der Werwolf wird zu einer Projektionsfigur für kleine Vergeltungsfantasien (Stichwort Beisslust) und dient insgesamt als Ermächtigungsstrategie, die jedoch die beängstigenden Seiten von Macht ebenfalls beinhaltet. In einer realitätsnahen Alltagswelt situiert, ist die Geheimhaltung des Werwolftums für die Protagonisten aus Angst vor Zurückweisung gegeben, sie selbst schliessen sich aus der (vermeintlichen) Normalität aus. Allen voran der/die beste Freund/in als Eingeweihte/r und allenfalls später die Familie zeigen indes unerschütterliche Akzeptanz. Im Ausnahmefall basiert die Zuneigung gerade auf der Andersartigkeit, in der Regel aber basiert die Akzeptanz auf der Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen Werwolf und Mensch: Im Grunde, so der Tenor, sind alle ein bisschen Werwolf, und wenn alle anders sind, sind auch Werwölfe keine unintegrierbaren Anderen mehr. Der Werwolf als Metapher für Andersartigkeit ist somit in den Kinderbüchern zwar ein Thema, verliert aber durch die Verwässerung der Figur an Aussagekraft.

Downloads

Veröffentlicht

2015-03-01

Zitationsvorschlag

von Holzen, A.-A. (2015). Schluss mit schüchtern! Werwölfchen als positive Andere bei Gunnel Linde, Paul DeWeese, Cornelia Funke und Paul van Loon. kids+media : Zeitschrift für Kinder- Und Jugendmedienforschung, 5(1). https://doi.org/10.54717/kidsmedia.5.1.2015.1

Ausgabe

Rubrik

Artikel